"Immer das gleiche! Oder doch immer anders?“ Das war das Thema des diesjährigen FAIRTIQ Forums. Die Online-Konferenz fand am 14. September 2023 statt. Führende Expert:innen der Transportbranche diskutierten, wie sich Vertrieb und Ticketing im öffentlichen Verkehr in verschiedenen Regionen Europas entwickeln.
Das In-Out-Ticketing im öffentlichen Verkehr etabliert sich als zusätzlicher Vertriebskanal – mit steigenden Nutzungszahlen. Die App-basierte Check-in/Check-out-Lösung des Schweizer Start-ups FAIRTIQ ist in vielen Regionen in verschiedenen europäischen Ländern erfolgreich im Einsatz. Über 120 Millionen ÖV-Fahrten wurden darüber bereits abgewickelt, berichtete Gian-Mattia Schucan, Gründer und Co-CEO des Technologieunternehmens, zu Beginn des diesjährigen FAIRTIQ Forums. Auf der Online-Konferenz diskutierten Vertreterinnen und Vertreter von ÖV-Unternehmen und Verkehrsverbünden aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Liechtenstein, Frankreich und weiteren europäischen Ländern über die vielfältigen Ansätze und Technologien, die den Vertrieb und das Ticketing im europäischen öffentlichen Verkehr vereinfachen. Automatisches Ticketing, Post-Pricing oder Flatrates – die Wege zum „neuen Normal“ des naht- und kontaktlosen Reisens sind vielfältig, zeigten Keynotes und Praxisbeispiele.
„Digitale technologische Innovationen für nachhaltige und vernetzte Mobilität sind der Schlüssel zur Verkehrswende“, sagte Keynote-Speakerin Olga Nevska zum Auftakt der Konferenz. Die Geschäftsführerin der Telekom MobilitySolutions teilte ihre Erfahrungen mit dem Umbau einer der größten deutschen Unternehmensflotten zu einem innovativen Mobilitätsprovider. Bedarfsorientierte und gemeinsam genutzte Mobilitätsangebote hätten nur dann einen hohen gesellschaftlichen Mehrwert, wenn sie einfach zugänglich und bezahlbar sind sowie einen sicheren Umgang mit Daten gewährleisten. Dafür müssten Verkehrsanbieter Mobilität als ganzheitliches Ökosystem begreifen. Partnerschaften mit ÖV-Unternehmen oder Verkehrsverbünden spielten dabei eine entscheidende Rolle: „Niemand kann das allein“, erklärte die Expertin.
Wie vielseitig und effektiv In-Out-Ticketing eingesetzt werden kann, zeigten drei Praxisbeispiele aus der Schweiz und aus Frankreich. Dabei kamen verschiedene Umsetzer:innen zu Wort, die vielfältige Einsatzmöglichkeiten des In-Out-Ticketings skizzierten. Diese Beispiele gewährten den Teilnehmenden wertvolle Einblicke in die unterschiedlichen Kontexte, in denen In-Out-Ticketing genutzt werden kann.
Wie Unternehmen den Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel gezielt fördern, um Arbeitswege so nachhaltig wie möglich zu gestalten, zeigte Nico Misselwitz, Leiter FM&RE (Liegenschaftsverwaltung & Immobilien) - Digital Customer Experience & Mobility beim Schweizer Pharmaunternehmen Roche Diagnostics. „Unsere Arbeitswelt hat sich stark verändert. Das wirkt sich auch auf den Mobilitätsbedarf vieler Pendler aus“, sagte der Experte. Hinzu kämen wachsende Mitarbeiterzahlen am Standort Rotkreuz im Kanton Zug und eine limitierte Zahl an Parkplätzen. „Daher haben wir mit unserer Mobilitätsstrategie 2035+ eine Roadmap entwickelt, um die Arbeitswege noch flexibler, individueller und zielgruppengerechter zu gestalten“, so Misselwitz.
Ein wichtiger Hebel sei der Vergleich der Anreisezeiten mit dem öffentlichen Verkehr und dem Auto. Die daraus resultierende “Traveltime Gap” sei Grundlage für gestaffelte Parkplatz-Preismodelle. Wer keine Parkberechtigung hat oder darauf verzichtet, erhält einen Mobilitätsbonus. Künftig werde das Konzept in ein Mobilitätsbudget oder ein Purpose-Bound-Bonusmodell überführt. „Damit Mitarbeitende mehr den öffentlichen Verkehr nutzen, setzen wir auch auf den Plattformgedanken“, so Misselwitz weiter. FAIRTIQ sei dafür ein starker Partner. „So können wir künftig zum Beispiel Incentive-Modelle technisch umsetzen oder Home Office-Modelle mit flexiblen Bestpreisen kombinieren.“
Dass mit einem flexiblen Tarifprodukt der öffentliche Verkehr attraktiver wird, zeigte ein Beispiel aus der französischen Region Okzitanien. Nach dem Prinzip eines Treueprogramms – wer mehr fährt, fährt günstiger bzw. kostenfrei („+ = 0“) – entwickelte der Verkehrsanbieter im Jahr 2021 ein Tarifmodell speziell für die Altersgruppe der 18- bis 26-Jährigen. Sie zahlen für die ersten zehn Fahrten den halben Preis, ab der elften Fahrt fahren sie kostenfrei. Wer noch mehr fährt, verdient sich zudem Gratis-Fahrten als Mobilitätsguthaben bis zur dreißigsten Fahrt hinzu. „Wir haben dieses Angebot inzwischen erfolgreich für weitere Altersgruppen weiterentwickelt und innovativer gestaltet“, sagte Valérie Ossant, Mitarbeiterin Vertrieb von liO Train der Region Okzitanien. Für Senioren gilt eine progressive Reduzierung, also wer mehr fährt, zahlt weniger („+ = -„). Wer zwischen 27 und 59 Jahre alt ist, fährt nach dem gleichen Modell, wobei ab der zwanzigsten Fahrt ein Preisdeckel greift („+ = Flex“). Künftig soll die Altersspanne weiter ausgeweitet werden, auch eine Ausweitung von IiO-Zügen auf regionale Busse ist geplant.
„Mit dem im August eingeführten Tarif konnten wir innerhalb weniger Wochen steigende Fahrgastzahlen verzeichnen“, berichtete Daniel Aubaret, Leiter des Marketings bei SNCF Voyageurs Occitanie. Mit dem Jugendtarif wurden 75.000 Neukunden gewonnen und 1,8 Millionen mehr Fahrten erzielt. „Die neuen Tarife sind eindeutig eine neue Form der Kundenbindung, indem sie mehr Freiheit und mehr Flexibilität bieten,“ so der Experte.
Über steigende Absatzzahlen bei digitalen Kanälen freut sich auch die Schweizer ÖV-Branchenorganisation Alliance SwissPass. „Rund 77 Prozent der Umsätze werden aktuell Stand September 2023 über digitale Kanäle gemacht“, berichtete Bruno Lehmann. Allein beim automatischen Ticketing lagen die Anteile der Tageskarten im letzten Jahr bei über zehn und bei den Einzeltickets bei über acht Prozent. Umso wichtiger sei technische Zuverlässigkeit – etwa die korrekte Datenerfassung und Preisberechnung betreffend. „Hier funktioniert die FAIRTIQ-Technologie schon sehr gut“, so Lehmann. Angesichts der 19 unterschiedlichen Tarifsysteme im Schweizer öffentlichen Verkehr, an die 52 Verkehrsunternehmen und zehn Verkehrsverbünde angeschlossen sind, sei auch eine korrekte Verteilung der über das automatische Ticketing generierten Umsätze essentiell. Dazu seien in die Fahrzeuge der Schweizer Verkehrsunternehmen Beacons, kleine Bluetooth-Sender, verbaut worden, die helfen, erfasste Reisen dem jeweiligen Verkehrsunternehmen noch exakter zuzuordnen – etwa, wenn zwei verschiedene Anbieter auf derselben Strecke fahren. So ließe sich künftig auch die Aufteilung von Umsätzen aus Flatrates wie dem Schweizer Generalabonnement vereinfachen, was bislang noch händisch über Nutzerumfragen und Reisetagebücher erfolgt.
Zu den Akkreditierungsstandards gehört auch die Definition von Ticketlayouts für die Fahrscheinkontrolle sowie ein Kriterienkatalog zur Missbrauchsbekämpfung. „Geprüft wird zum Beispiel, ob erfasste Reisen und kontrollierte Tickets übereinstimmen oder ob ein- und ausgecheckte Reisen auch tatsächlich stattgefunden haben“, erklärte Lehmann. „FAIRTIQ erzielt hier sehr hohe Punktzahlen.“
Neben hoher Datenqualität und -sicherheit sei radikale Einfachheit das beste Mittel, um mehr Fahrgäste für den öffentlichen Verkehr zu gewinnen und den ÖV-Anteil am Modalsplit zu steigern, sagte der zweite Keynote-Speaker Andreas Fuhrer von der Alliance SwissPass. Die ÖV-Branchenorganisation entwickelt und testet derzeit im Projekt myRIDE neue Ticket- und Bepreisungsformen. Mit dem Post-Pricing-Ansatz werden nur die effektiv gefahrenen Strecken verrechnet. So besteht die Möglichkeit, die Fahrtkosten basierend auf dem Nutzungsverhalten zu optimieren oder beispielsweise zu deckeln.
„Damit ersetzen wir nichts, sondern schaffen eine neue, digitale, kundenorientierte und hürdenlos zugängliche Alternative zu bestehenden klassischen Angeboten“, stellte der Projektmanager klar. Voraussetzung für den Erfolg eines solchen E-Tarifs seien hohe Preistransparenz, garantierte Anonymität der Reisenden, unkompliziertes Onboarding und einfache Zugänglichkeit.
Die diesjährige Paneldiskussion, moderiert von Paula Ruoff, stellvertretende Leiterin Business Development, widmete sich der Zukunft des Vertriebs und welche Rolle dabei das automatische Ticketing einnimmt. Ebenfalls diskutiert wurde am Beispiel des Klimatickets in Österreich, welche Potenziale Flatrates bieten. Mit bis zu 10.000 Neukunden im Monat und über 90 Prozent Verlängerungen um ein weiteres Jahr, werde das Angebot gut angenommen, berichtete Jakob Lambert, Geschäftsführer von One Mobility. Gerade für Vielfahrer und Pendler böten solche Degressionsmodelle attraktive Preisalternativen. Zudem zeige das Beispiel Schweiz, aber auch das Deutschlandticket, dass Flatrates eine hohe Integrationswirkung auf die ÖV-Branche haben. „Man muss sich zusammenraufen“, so Lambert.
Ob sich solche Lösungen langfristig etablieren können, sei letztlich eine Frage der politischen Weichenstellungen, sagte Gian-Mattia Schucan, Gründer und Co-CEO von FAIRTIQ. Flatrates könnten kurzfristig sehr viel bewegen. „Langfristig aber braucht es Kreativität, neue Ideen einfach mal auszuprobieren und zu testen, um brachliegendes Kundenpotenzial zu erschließen, aber auch die Finanzierungsbasis des öffentlichen Verkehrs nachhaltig zu sichern.“
Check-in/Check-Out-Lösungen könnten in einer Tariflandschaft zwischen einem Flatrate-Angebot für Vielfahrer und Spartickets für Gelegenheitskunden für anhaltende Zugewinne des ÖV am Modalsplit sorgen. Darin waren sich die Panel-Teilnehmer einig. Entscheidend sei letztlich das Gesamterlebnis der Kundinnen und Kunden, das das Reisen radikal einfach und fair macht. „Dafür wird die Machbarkeit kombinierter Reiseketten für das nahtlose Reisen künftig immer wichtiger werden“, sagte Andreas Fuhrer von Alliance Swiss Pass. Letztlich gelte es, den öffentlichen Verkehr anschlussfähig zu machen.
Insgesamt zeigte das FAIRTIQ Forum 2023 auf, dass eine integrative, kundenorientierte und technologisch innovative Herangehensweise der Schlüssel zur Gestaltung des „neuen Normal“ bei Ticketing und Vertrieb im öffentlichen Verkehr ist. Die FAIRTIQ Co-CEOs Anne Mellano und Gian-Mattia Schucan waren sich abschließend einig: “Mit engagierten Partnerschaften und fortschrittlichen Lösungsansätzen können wir auf eine vielversprechende Zukunft im Bereich des öffentlichen Verkehrs blicken”.