In ganz Europa stehen Verkehrsunternehmen unter Druck, ihre Tarifsysteme zu vereinfachen und gerechter zu gestalten. Viele stellen dabei grundlegende Prinzipien infrage – etwa das lange Zeit dominierende Zonensystem. In einem aktuellen FAIRTIQ-Webinar zur distanzbasierten Preisgestaltung diskutierten Expertinnen und Experten aus mehreren Ländern, wie solche Modelle in der Praxis funktionieren. Ob Luftlinientarife in Deutschland und Norwegen oder flexibel angepasste Systeme in Tschechien – eines wurde deutlich: Distanzbasierte Preisgestaltung mit einem Swipe auf dem Smartphone ist längst keine Zukunftsvision mehr. Sie wird bereits heute erfolgreich in zahlreichen Regionen Europas eingesetzt.
Zonenbasierte Tarife galten lange als Standard im öffentlichen Verkehr. Heute wirken sie vielerorts wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Wer für eine kurze Strecke eine Zonengrenze überschreitet, zahlt häufig überproportional viel. Das sorgt nicht nur für Frust bei den Fahrgästen, sondern erschwert auch die Anpassung an neue politische oder geografische Gegebenheiten.
Mit der zunehmenden Digitalisierung der Mobilität wächst der Wunsch nach Modellen, die den tatsächlichen Fahrgewohnheiten gerecht werden, neue Fahrgäste ansprechen und den Zugang zum ÖPNV erleichtern.
Distanzbasierte Preisgestaltung, bei der der Fahrpreis anhand der Luftlinie zwischen Start und Ziel berechnet wird, ist eine attraktive Alternative. Das Modell erfüllt zentrale Wünsche der Fahrgäste: faire, transparente und einfach nachvollziehbare Preise. In Kombination mit Mobile Pay-as-you-go (MPAYG) Systemen wie FAIRTIQ entsteht ein nahtloses Nutzungserlebnis – und gleichzeitig gewinnen Verkehrsunternehmen mehr Flexibilität, ihre Tarifstrategie feinzujustieren.
Der Weg dorthin ist jedoch kein Selbstläufer. Was braucht es für eine erfolgreiche Umstellung und was können wir von den Vorreitern lernen?
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👉 Lesen Sie mehr zu distanzbasiertem Pricing in diesem Blogpost.
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💡 Mobilité Unternehmensberatung GmbH & Co. KG mit Sitz in Deutschland ist unter anderem auf die strategische Tarifentwicklung und die Digitalisierung von Verkehrsverbünden spezialisiert. In mehreren Regionen spielte das Unternehmen eine führende Rolle bei der Einführung und Skalierung des Luftlinientarifs.
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Bianka Bönig, Senior Consultant bei Mobilité, teilte im Webinar Erfahrungen aus über zehn Jahren Beratung im Bereich digitale Tarifstrategien. Anhand zahlreicher regionaler Projekte zeigte sie, dass der Luftlinientarif dauerhaft hohe Kundenzufriedenheit und breite Akzeptanz erzielt. Ein zentraler Erfolgsfaktor: Verständlichkeit. Wenn Fahrgäste intuitiv nachvollziehen können, wofür sie bezahlen, steigt das Vertrauen.
Bönig betonte die Bedeutung gezielter Pilotphasen, einer klaren Abgrenzung vom bisherigen System und einer sorgfältig geplanten Migrationsstrategie von Anfang an. Der eigentliche Vorteil digitaler Preisgestaltung liegt für sie in der Kombination aus einer einfachen Nutzererfahrung und einem flexiblen, leistungsstarken Backend – so lassen sich unterschiedlichste Anforderungen erfüllen, ohne die Fahrgäste zu überfordern.
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💡 Der Karlsruher Verkehrsverbund (KVV) ist die Nahverkehrsbehörde für die Region Karlsruhe in Südwestdeutschland. Er koordiniert die Angebote von 31 Verkehrsunternehmen und zählt jährlich rund 139 Millionen Fahrgastfahrten.
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Stefanie Herrmann, Abteilungsleiterin Tarifmanagement beim KVV, berichtete im Webinar, wie der Verbund als einer der ersten einen regionalen Luftlinientarif eingeführt und erfolgreich skaliert hat – umgesetzt über die FAIRTIQ App unter dem Namen „KVV.luftlinie“. Seit dem Start im Dezember 2021 wurden damit über 1,4 Millionen Fahrten durchgeführt – in Spitzenzeiten bis zu 50.000 im Monat.
Seit Februar 2025 ist KVV.luftlinie in das landesweite System CiCoBW eingebunden und wird bis Ende des Jahres vollständig in die regionale Mobilitätsplattform des KVV integriert. Damit wird der Zugang zu multimodalen Angeboten noch einfacher. Was als Pilotprojekt begann, ist heute ein fest verankerter Bestandteil des Tarifsystems in Baden-Württemberg – skaliert, integriert und zukunftsbereit.
Stefanie Herrmann, Abteilungsleiterin Tarifmanagement, KVV
| 💡 Der Verkehrsverbund Großraum Nürnberg (VGN) ist einer der größten Verkehrsverbünde Deutschlands und koordiniert 140 Verkehrsunternehmen in der Region um Nürnberg. Mit dem digitalen Tarifmodell „egon“ hat der VGN 2022 einen distanzbasierten eTarif für Gelegenheitsfahrende eingeführt. Heute gilt das Modell als Referenz für nutzerfreundliche und anreizbasierte Preisgestaltung im multimodalen Umfeld. |
Klaus Dechamps, Abteilungsleiter Märkte und Absatz beim VGN, stellte im Webinar die Kennzahlen des Modells vor: ein einfacher Grundpreis, ein Preis pro Kilometer sowie stufenweise Rabatte (50 % ab 16 EUR, 75 % ab 50 EUR und ein Pauschaltarif ab 70 EUR). Seit Einführung wurden bereits über 3,5 Millionen Fahrten mit egon durchgeführt. 7 % der Nutzenden gaben an, dass sie ohne dieses Angebot nicht mit dem ÖPNV gefahren wären.
Klaus Dechamps, Abteilungsleiter Märkte und Absatz, VGN
Trotz der deutschlandweiten Konkurrenz durch das Flatrate-Modell Deutschlandticket wächst egon um 26 % weiter, während der Verkauf klassischer Einzelfahrscheine um 23 % zurückging. Für den VGN ist das ein deutliches Zeichen: Digitale, distanzbasierte Modelle sind nicht nur tragfähig, sondern werden zunehmend bevorzugt.
Klaus Dechamps, Abteilungsleiter Märkte und Absatz, VGN
| 💡 Brakar AS ist die Nahverkehrsbehörde der Region Buskerud westlich von Oslo und betreut rund 285.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Nach einer Gemeindefusion startete Brakar ein Pilotprojekt, um in bestimmten Gebieten distanzbasierte Tarife zu testen – dort, wo das Thema Tarifgerechtigkeit besonders sensibel war. |
Murtaza Mukhtar, Controller bei Brakar, erläuterte im Webinar die Strategie des Unternehmens, starre Zonentarife durch ein Luftlinienmodell zu ersetzen. Mithilfe detaillierter Modellierungen untersuchte das Team verschiedene Szenarien, bewertete die Auswirkungen auf Einnahmen und Fahrgastkosten und simulierte mögliche Verhaltensänderungen. Besonders wichtig: Erste Rückmeldungen aus der Pilotregion bestätigten die Grundannahme des Projekts – Fahrgäste schätzen transparente Preise und fühlen sich fair behandelt.
Für Brakar ist das Pilotprojekt kein Einzelfall, sondern ein erster Schritt hin zu einem intelligenteren und gerechteren Tarifsystem. Im Fokus stehen nun die Weiterentwicklung auf Basis von kontinuierlichem Feedback sowie die Vorbereitung einer möglichen Ausweitung auf die gesamte Region. Mukhtar betonte, dass distanzbasierte Tarife nicht nur ein technischer Wechsel, sondern ein kultureller Wandel sind.
Murtaza Mukhtar, Controller bei Brakar
| 💡 Die Region Zlín ist eine von 14 Verwaltungsregionen Tschechiens und versorgt rund 600.000 Einwohnerinnen und Einwohner mit einem Mix aus städtischem und regionalem Verkehr. Im Jahr 2024 wurden dort neun Verkehrsunternehmen und sechs Aufgabenträger in ein gemeinsames Tarifsystem überführt – basierend auf einem Cluster-Modell für distanzbasierte Preise. |
Jan Kolařík, Berater für öffentlichen Verkehr in der Region, stellte den besonderen Ansatz vor: Statt großer Tarifzonen werden Haltestellen zu kleinen, flexiblen Clustern zusammengefasst. Für jede Kombination aus Start- und Zielcluster wird ein fixer Preis definiert, der sich grob an der Luftlinie zwischen den jeweiligen Clusterzentren orientiert. Die Preise lassen sich bei Bedarf individuell anpassen.
Selber, fairer Preis für jede Route und Transportmittel
Diese umfassende Tarifreform ermöglichte einen einheitlichen Tarif für alle Verkehrsmittel der Region. Die Region Zlín fand in FAIRTIQ einen Partner, der das neue Modell in nur wenigen Monaten technisch umsetzen konnte. Für Regionen mit komplexer Geografie oder politischen Einschränkungen bietet dieser Ansatz eine flexible Alternative zum klassischen Punkt-zu-Punkt-Modell.
Jan Kolařík, Berater und Planer für den öffentlichen Verkehr in der Region Zlín
Ein zentrales Fazit des Webinars: Distanzbasierte Preisgestaltung ist weit mehr als ein technisches Update – sie ist eine strategische Entscheidung. Wer sie umsetzt, muss politische Rahmenbedingen, finanzielle Ziele und die Erwartungen der Fahrgäste sorgfältig navigieren. Doch der potenzielle Nutzen ist hoch: Ein einfacheres, transparenteres Tarifsystem senkt Einstiegshürden, stärkt das Vertrauen und ermöglicht eine flexiblere Preissteuerung.
Natürlich gibt es Herausforderungen – zum Beispiel mögliche Einnahmeverluste zu Beginn, Vorbehalte gegenüber Veränderungen oder ein erhöhter Kommunikationsbedarf an Fahrgäste. Aber mit bewährten Methoden wie stufenweisen Rabatten, gezielten Pilotprojekten und klarer Kommunikation lassen sich diese erfolgreich bewältigen. Die Beispiele aus der Praxis zeigen: Wer die richtigen Werkzeuge nutzt und offen für Neues ist, kann mit distanzbasierten Preisen nicht nur fairer, sondern auch erfolgreicher wirtschaften.
Ein gutes Beispiel ist Nürnberg: Der egon-Tarif zeigt, dass einfache und transparente Preise mit klaren Anreizen auch neue Fahrgäste erreichen - sogar diejenigen, die bisher nicht mit dem ÖPNV unterwegs waren.
Distanzbasierte Tarife sind längst Realität. Sie funktionieren – und das erfolgreich. Wenn sich Bedürfnisse und politische Ziele ändern, müssen auch die Tarife mitziehen. Ob Luftlinie oder andere Ansätze: Die Zukunft ist digital, flexibel – und fair.
Sehen Sie sich die Webinar-Aufzeichnung an oder vereinbaren Sie ein unverbindliches Gespräch mit dem Business Development Team von FAIRTIQ. Keine Verpflichtungen, nur Ideen.