Tarifexperiment der HAVAG weist Rentabilität von Bonussystemen nach
Bonussysteme, Loyalitätsrabatte oder andere Anreize sollen Gelegenheitsfahrgäste zu einer häufigeren Nutzung des ÖPNV motivieren. Obwohl bereits zahlreiche Modelle im Einsatz sind, gibt es bislang kaum belastbare Daten zu ihren effektiven Auswirkungen. Die Hallesche Verkehrs AG (HAVAG) entschied sich daher, im Stadtgebiet von Halle (Saale) verschiedene Rabattsysteme zu testen, bevor eine Entscheidung zur flächendeckenden Einführung gefällt wird. Untersucht wurden zwei Aspekte: Wie wirkt sich die Rabattierung auf das Verhalten der Kund:innen aus, und inwieweit kann der zusätzliche Umsatz die Mehrkosten der Rabatte decken. Das Tarifexperiment lief vom 1. April bis zum 30. Juni 2023. Kathrin Jähnert-Elster, Tarif- und Vertriebskoordinatorin der HAVAG, gab uns eine Einschätzung des Experiments und der vorliegenden ersten Ergebnisse.
FAIRTIQ: Das Deutschlandticket bietet Nahverkehr zum günstigen Preis: Warum hat die HAVAG sich entschlossen, parallel noch Bonus-Systeme zu testen?
Kathrin Jähnert-Elster: Das Deutschlandticket richtet sich ja vorrangig an die Fahrgastgruppe, die öfter den ÖPNV nutzt und für die es sich lohnt, monatlich 49 Euro für den ÖPNV auszugeben. Es wird weiterhin eine große Anzahl an Menschen geben, die den ÖPNV nur gelegentlich nutzt. Für diese Menschen interessieren wir uns. Wir wollen wissen, wie genau Rabatte und Boni einen Einfluss darauf haben können, dass Gelegenheitsfahrgäste den ÖPNV häufiger nutzen.
Die aus dem Experiment gewonnenen Erkenntnisse wollen wir für unseren zukünftigen eTarif nutzen. Im Rahmen des Modellprojektes StadtLand+ haben wir geplant, einen eTarif in Halle (Saale) für den Zeitraum August 2022 bis Dezember 2024 als Grundlage für einen eTarif im gesamten Gebiet des Mitteldeutschen Verkehrsverbunds (MDV) einzuführen und verschiedene Aktionen/Rabatte zu testen. Der Test selbst erfolgt in der FTQ Lab-App. Parallel dazu haben wir noch die FAIRTIQ-App mit dem klassischen Tarif im Einsatz.
Das Versuchsdesign stimmten HAVAG und FAIRTIQ gemeinsam ab. In zwei Testgruppen wurden verschiedene Bonussysteme parallel erprobt. Bonusschwellen, Bonusstaffeln und der Zeitpunkt, an dem der Bonus wirksam wurde, waren in beiden Gruppen unterschiedlich:
Test-gruppe |
Bonus-schwelle (Fahrten im Monat) |
Bonus-staffel |
Bonuswirksamkeit und Zeitpunkt |
Bonuseffekt aus Fahrgastsicht |
1 |
4 |
10 Prozent |
… auf die folgende 5., 6. und 7. Fahrt im gleichen Kalendermonat |
Häufige ÖPNV-Nutzung wurde „direkt belohnt“. Mit Monatsbeginn starteten Kund:innen wieder zum vollen Preis von vorne. |
8 |
15 Prozent |
… auf die folgende 9., 10. und 11. Fahrt im gleichen Kalendermonat |
||
12 |
25 Prozent |
… auf die 13. und alle weiteren Fahrten im gleichen Kalendermonat |
||
2 |
5 |
5 Prozent |
… auf alle Fahrten im folgenden Kalendermonat |
Die „Belohnung“ erfolgte verzögert, führte jedoch bei regelmäßiger Mehrnutzung zu einem durchgängig ermäßigten Tarif. |
9 |
10 Prozent |
|||
13 |
15 Prozent |
FAIRTIQ: Direkte Belohnung versus günstiger Fahren im nächsten Monat: Welches der beiden Bonus-Systeme ist aus Ihrer Sicht am attraktivsten?
Kathrin Jähnert-Elster: Das ist aus Sicht der Kunden vom individuellen Fahrverhalten abhängig. Wir wollten uns hier nicht auf unser Bauchgefühl verlassen, sondern Erkenntnisse durch den Test beider Varianten gewinnen.
Insgesamt nahmen rund 1.760 Testkund:innen an dem Feldversuch teil. Die Einteilung der Teilnehmenden in zwei Versuchs- und eine Kontrollgruppe, die keinerlei Vergünstigungen erhielt, war zufällig. Das Fahr- und Ausgabenverhalten war in allen Gruppen zu Beginn des Experiments gleich.
Die Testgruppen wurden zum Start des Versuchs per E-Mail über den zeitlich begrenzten Bonus informiert. Die weitere Kommunikation lief direkt über automatisch generierte und individuelle Nachrichten in der FTQ Lab App. Beispielsweise wurden die Testkund:innen kurz vor Erreichen einer Bonusschwelle benachrichtigt und motiviert, weitere Fahrten mit Bussen und Bahnen zu unternehmen, um einen höheren Rabatt zu erzielen.
FAIRTIQ: Welche Aspekte des Tests mit der FTQ Lab App halten Sie für besonders erwähnenswert?
Kathrin Jähnert-Elster: Die Änderung des Fahrverhaltens/Nutzungsverhaltens auf Grund der Rabatte.
Die „direkte Belohnung“ in Testgruppe 1 brachte eindeutige Ergebnisse: Die ÖPNV-Nutzung stieg deutlich an, und die Teilnehmenden gaben im Vergleich zur Kontrollgruppe circa 20 Prozent mehr für den ÖPNV aus. Das Ergebnis ist auch statistisch signifikant (p < 0.5) – und der Erfolg des gestaffelten Bonus damit eindeutig nachgewiesen. Darüber hinaus rentiert sich die direkte Belohnung auch aus Anbietersicht. Die Mehrausgaben der Fahrgäste waren circa doppelt so hoch wie die Kosten, die durch den Bonus entstanden sind.
Bei der „nachgelagerten Belohnung“ in Testgruppe 2 waren die Ergebnisse tendenziell ebenfalls positiv, jedoch im statistischen Test nicht ganz eindeutig. Hier könnte ein zweiter Test mit einer größeren Nutzergruppe sinnvoll sein, um die Wirkung und Effektivität dieses Bonusmodells genauer zu erkunden.
FAIRTIQ: Die Ergebnisse zeigen: Bonus-Systeme können sich auch in wirtschaftlicher Hinsicht lohnen. Wie gehen HAVAG und MDV mit diesen Ergebnissen weiter um?
Kathrin Jähnert-Elster: Der letzte Monat des Tests ist gerade erst abgeschlossen, die detaillierte Auswertung läuft noch. Wenn die Ergebnisse vorliegen, werden wir sie im MDV vorstellen und diskutieren. Im Anschluss werden wir die Ergebnisse in den weiteren Planungen berücksichtigen.
Die Experimentierfreude der HAVAG unterstützt nicht nur die Entscheidungsfindung im MDV, sondern ist auch ein wichtiger Schritt zu mehr Innovation im ÖPNV. Denn fundierte Messungen, die zu belastbaren Ergebnissen kommen, bieten eine wichtige Wissensgrundlage für die gesamte Branche. Die FTQ Lab App liefert Daten statt Bauchgefühl – und damit die Möglichkeit, mit geringen Kosten das Tarifsystem weiterzuentwickeln und zu erproben, was am besten zur Situation und zu den Zielen vor Ort passt.
Detaillierte Informationen zum Ablauf und zu den Ergebnissen des Tarifexperiments der HAVAG finden Sie in unserer Case Study.
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