14 Dezember 2022

ÖV Expert:innen diskutieren: Preis- & Vertriebspolitik im DACH-Raum

ÖV Expert:innen diskutieren: Preis- & Vertriebspolitik im DACH-Raum

Am 17. und 18. November 2022 fand das zweitägige virtuelle FAIRTIQ Forum statt. Am Ende des zweiten Tages diskutierten internationale Expert:innen aus der Verkehrswelt, Wissenschaft und öffentlicher Einrichtungen über Preis- und Vertriebspolitik im DACH-Raum.

Lesen Sie im Folgenden eine gekürzte Zusammenfassung des Expert:innen Panels.

👉 Hier finden Sie auch unseren Blogpost mit den Highlights des FAIRTIQ-Forums 2022 und hier die Panel-Diskussion in voller Länge

Was ist besser: Flatrate oder Einzeltarif? Ist die weitere Vergünstigung von Fahrpreisen der Königsweg zur Steigerung der Nachfrage? Führt eine Öffnung des Vertriebs zur Übernahme durch globale Player? Welche Rolle spielt der ÖPNV hinsichtlich sozialer Fragen und der aktuellen Armutsdebatte? Zu diesen sowie zu weiteren Themen diskutierte das Panel engagiert und teilweise kontrovers miteinander und griff dabei auch Fragen aus dem Publikum auf. 

Günstig ist nicht immer besser, kostenlos ist fast immer falsch

Niedrige Preise im ÖPNV gelten häufig als Patentrezept, um mehr Fahrgäste für Busse und Bahnen zu gewinnen. Daraus entsteht schnell die politische Forderung nach einem kostenlosen ÖPNV. So wird auch das Deutschlandticket, das im Jahr 2023 eingeführt werden soll, teilweise als Vorbote des Nulltarifs gehandelt. Dem widersprach Panelist Johann von Aweyden von der Deutschlandtarifverbund GmbH. Aus seiner Sicht sei die Finanzierung des Nulltarifs schwierig. Er rechnet vor „Das Deutschlandticket soll drei Milliarden Euro kosten, der Nulltarif 13 Milliarden - das ist schon eine andere Dimension.”

Dr. Peter Füglistaler vom Schweizer Bundesamt für Verkehr sah den Gratis-Tarif im ÖV ebenfalls als falschen Weg an. Dies führe nur dazu, dass mehr Verkehr generiert werde. Menge und Masse seien jedoch nicht das Ziel. Die übergeordnete Zielsetzung lautet: Klimaschutz und Energiewende. Auch aus Sicht von Dr. Wiebke Zimmer, Agora Verkehrswende, bringt es wenig, die Fahrpreise im ÖV einfach weiter zu senken. Auch die Pkw-Nutzung müsse teurer werden, um Menschen zum Umdenken zu bewegen.

Flatrate und Einzeltarif gehen am besten zusammen 

Zur Frage „Flatrate oder Einzeltarif?” lautete die übereinstimmende Antwort im Panel: „Beides.” Ideal sei eine Integration unterschiedlicher Fahrscheinarten und Tarife. Wichtig sei die Einfachheit, so dass die Kund:innen sich ihr eigenes Paket für ihre jeweiligen Bedürfnisse zusammenstellen können. Dr. Peter Füglistaler sieht hier eine Analogie zu den Entwicklungen im Mobilfunksektor. Neue Tarife und die Öffnung des Vertriebs verbessern die Wahlfreiheit für Fahrgäste. 

Zum Stichwort Vertrieb ergänzte Johann von Aweyden, dass der Fokus nicht ausschließlich auf digitalaffinen Gruppen liegen sollte. Auch in der Zukunft müsse es die Möglichkeit geben, zum kommunalen Unternehmen zu gehen und ein Ticket oder ein Abo von einer Stelle zu kaufen, zu der ein Vertrauensverhältnis besteht. „Wir müssen zweigleisig unterwegs sein”, fasste er seine Sichtweise zusammen. 

Für Gian-Mattia Schucan, CEO bei FAIRTIQ, führen mehr als zwei Gleise in die Zukunft. Beim Tarif gäbe es zahlreiche Möglichkeiten, gezielte Preismodelle zu entwickeln, die nicht nur zu mehr Fahrgästen, sondern auch zu einer Lenkung der bestehenden Nachfrage führen können. Dazu gehören beispielsweise on-/off-peak-Modelle oder degressive Rabatte, die ein spezielles Nutzungsverhalten unterstützen - von Modal Split bis Mehrertrag. Sein Plädoyer lautete: „Wir können differenzierter und trotzdem kundenfokussiert einfacher werden.”

Christian Hillbrand vom Verkehrsverbund Vorarlberg wünschte sich mehr Intermodalität und das Denken in Reiseketten, sowohl beim Angebot als auch beim Tarif. Ziel sollte es sein, die Menschen schon auf dem Weg zur Garage abzuholen, so dass sie gar nicht erst ins Auto einsteigen. 

Das Deutschlandticket ist keine Preisinnovation und ein bisschen kopflos 

Das 9-Euro-Ticket im Sommer 2022 war deutschlandweit ein Verkaufsschlager und wird als politischer Erfolg gefeiert. Die Bilanz der Panelist:innen zum vermeintlichen ÖPNV-Sommermärchen fiel jedoch deutlich differenzierter aus. „Verkaufszahlen machen noch keine Verkehrswende”, meinte Dr. Wiebke Zimmer. Für sie sind insbesondere die Learnings interessant. Neben der nicht ganz neuen Erkenntnis, dass Preis und tarif- bzw. gebietsübergreifendes Angebot Einfluss haben, gehören dazu aus ihrer Sicht vor allem die stärkere öffentliche Wahrnehmung zur Belastungsgrenze sowie das Feedback zu schlechter Erschließung. „Wir müssen das Angebot ausbauen. Bezahlbare Preise und übergreifendes Angebot müssen gemeinsam entwickelt werden“, betonte sie. Aus ihrer Sicht ist das Deutschlandticket „auch ein Stück weit kopflos“. Der Fokus läge zu sehr auf der Aushandlung der Finanzierungsanteile. Das Ziel, den Umstieg vom Pkw auf den ÖV zu fördern, stünde dahinter zurück. Ihre Schlussfolgerung: „Es fehlt eine Roadmap, die Finanzierung, Angebot und Ticketing gemeinsam betrachtet.“

Johann von Aweyden stimmte dem zu und ergänzte: „Es müssen mehr Ziele vereinbart und die Organisationen auf diese Ziele eingeschworen werden. Die Tarifwende ist nicht das, was die Verkehrswende hervorruft. Das Thema Angebot ist viel wichtiger, doch dafür braucht es die richtigen Organisationsstrukturen.“ Diese zu schaffen, so von Aweyden weiter, hätte Deutschland verschlafen –  das müsse nun nachgeholt werden.

Die Kopflosigkeit überwinden – mit klaren Zielen, funktionierenden Organisationsstrukturen und sicherer Finanzierung

Beim Thema Organisationsstrukturen schaue man laut von Aweyden aus Deutschland in die Schweiz, wo sich Transportunternehmen und Verbünde zur Alliance SwissPass, der Branchenorganisation des öffentlichen Verkehrs, zusammengeschlossen haben. Dr. Peter Füglistaler gab zu bedenken, dass auch bei der Alliance SwissPass noch Entwicklungsbedarf bestünde. Vor allem die Durchsetzung von Entscheidungen sei noch schwierig. Dies läge auch an den gesetzlichen Grundlagen, die derzeit beispielsweise die Tarifhoheit bei den Unternehmen ansiedeln.

Aus Österreich wurde bestätigt, dass die Kopflosigkeit beim Thema Tarifinnovation kein explizit deutsches Thema ist. Aus Sicht von Christian Hillbrand erhole sich Österreich gerade von der Kopflosigkeit, die mit der Einführung des Klimatickets vor zwei Jahren einherging. Das Land Österreich stellte zur Finanzierung 180 Millionen Euro zur Verfügung. Das Problem: Einige Städte und Regionen, wie Vorarlberg oder Wien, hatten bereits ähnliche günstige Angebote. Sie benötigten keine finanzielle Unterstützung für die Vergünstigung des Tarifs, sondern für die Verbesserung des Angebots. Der Bund gab einem entsprechenden Antrag statt. Die Gelder können in das Klimaticket, das Angebot und die Infrastruktur investiert werden. Vertragliche Regelungen stellen sicher, dass die Finanzierung auch langfristig gesichert sei.

+ = 0: Die Formel für eine inspirierende Tarifinnovation

Wenn nun das Deutschlandticket keine wirkliche Preisinnovation sei, wie sieht dann ein wirklich innovatives Tarifprodukt aus? Auf diese Frage der Moderatorin Paula Ruoff hin stellte FAIRTIQ-CEO Gian-Mattia Schucan kurz das Angebot „+=0“ aus der französischen Region Occitanie vor. „+=0“ steht für den Grundansatz des Modells: Viel ÖPNV-Nutzung (+) führt zu (=) kostenfreier Nutzung (0). In diesem Tarifmodell gibt es die ersten zehn Fahrten zum halben Tarif. Bei den zweiten zehn Fahrten greift das Capping, sie sind also kostenfrei. Wer noch mehr fährt, verdient sich damit Gratis-Fahrten für den nächsten Monat hinzu. Das Modell ist „extrem in seiner Ausgestaltung, aber sehr inspirierend“, betonte Schucan. Vor allem aber sei es sehr erfolgreich.

Der Tarif wurde speziell für die Altersgruppe der 18-26 jährigen Nutzer:innen entwickelt, mit dem Ziel, diese vom Kauf des ersten Autos abzuhalten. Mittlerweile konnten ein Drittel Mehrfahrten – und zwar bei allen Nutzer:innen –  und ein Drittel Mehrerträge generiert werden. „Man kann Gratis-ÖV ankündigen und doch mehr Einnahmen holen“, schlussfolgerte Schucan. Das Modell sei etwas kompliziert zu erklären, für die Nutzer:innen jedoch einfach zu verstehen, auch dank regelmäßiger Kommunikation in der App. Darin läge ein Teil des Erfolgs, denn: „Die Einfachheit muss bei den Kund:innen ankommen.“

Soziale Teilhabe – Eine Aufgabe der Verkehrspolitik?

„Endlich können wir es uns auch leisten, einmal mit der Bahn einen Familienausflug zu machen!“ Solche und ähnliche Reaktionen gab es laut Dr. Wiebke Zimmer nach der Einführung des 9-Euro-Tickets in Deutschland. Darin bestünde ein weiteres Learning aus dem Sommer 2022: „Viele, die es noch nicht wussten, haben gelernt: Mobilität ist auch eine Frage des Geldes, Bahnfahren hat auch eine soziale Komponente.“ Diese Sichtweise wurde vom Panel und vom Publikum geteilt. Zur Frage, wer für diese soziale Komponente zuständig sei – die Verkehrs- oder die Sozialpolitik – gab es jedoch unterschiedliche Einschätzungen. 

Dr. Füglistaler sieht die Gewährleistung der sozialen Teilhabe als Aufgabe der Sozialpolitik. Auch in der wohlhabenden Schweiz gäbe es Armut, aber den ÖV zu verbilligen oder Sozialtickets auszustellen sei nicht der richtige Weg. Viele Rabatte, die es heute gäbe, seien zudem nicht mehr zeitgemäß. Christian Hillbrand pflichtete dem bei. Aus seiner Sicht müsse vor allem sichergestellt werden, dass den Gruppen, die tatsächlich finanzielle Unterstützung benötigen, um mobil zu sein, diese unbürokratisch angeboten werden könnte. Dr. Wiebke Zimmer betonte, dass man soziale Themen auch bei der Verkehrspolitik nicht aus dem Blick lassen solle. Das gelte jedoch nicht nur für den ÖPNV, sondern für verkehrspolitische Instrumente insgesamt. Johann von Aweyden sieht soziale Aspekte der Mobilität als Thema der für Soziales zuständigen Behörden – allerdings müsse die Übersetzung in den Verkehrsbereich einfach sein. Aus Sicht von Gian-Mattia Schucan spielen In-Out-Systeme auch hinsichtlich sozialer Aspekte eine relevante Rolle: Sie können den Einstieg in das System einfach machen – und das landesweit.

Öffnung des Vertriebs: Keine Angst vor globalen Playern

„Wenn globale Player am Vertrieb von ÖPNV-Tickets interessiert wären, hätten sie schon lange eine Lösung gefunden, wie sie die aktuellen Hürden umgehen könnten“, fasste ein Teilnehmer aus dem Publikum im Chat seine Sichtweise auf die aktuelle Diskussion um die Öffnung des Vertriebs zusammen. Die anschließende Frage: „Überschätzen wir möglicherweise die Bedeutung des ÖV-Vertriebs?“ wurde von den Panel-Teilnehmer:innen unterschiedlich beantwortet. 

Dr. Peter Füglistaler konnte die Ängste hierzu nicht nachvollziehen. Derzeit werden Provisionssätze im einstelligen Bereich diskutiert, vorgeschlagen wurden aktuell 5 Prozent. Die Verkehrsunternehmen erhielten dann 95 Prozent der Einnahmen. „Ein Dritter macht für 5 Prozent die ganze Arbeit: Das ist kein schlechter Deal“, fasste er zusammen. Die Ängste, dass externe, globale Player die Tarife diktieren könnten, teilte er nicht. Hierfür gäbe es in der Schweiz gesetzliche Vorgaben. Allerdings stellen die Aktivitäten Dritter gewachsene Strukturen in Frage. „Aber“, so Füglistaler weiter, „das ist Marktwirtschaft, da muss man sich eben auch bewegen.“ 

Für Deutschland beurteilte Johann von Aweyden die Situation etwas anders. Es sei keineswegs gesagt, dass die Verkehrsunternehmen den Vertrieb nicht zu geringeren Kosten als 5 Prozent übernehmen könnten. Hinzu käme, dass bei der Integration Dritter ins System auch Fixkosten steigen. Insofern seien die Sorgen der Anbieter für ihn nachvollziehbar. Er gab allerdings zu bedenken: „Für die internationalen Player ist der Vertriebsmarkt im Moment nicht attraktiv, weil wir als Branche zu kompliziert sind. Da muss man – wie FAIRTIQ – schon durch intrinsische Motivation getrieben werden.“ 

Dass FAIRTIQ diese Motivation nach wie vor aufbringt, bestätigte Gian-Mattia Schucan. Aus seiner Sicht können Verkehrsunternehmen Vertriebsleistungen nicht günstiger als 5 Prozent anbieten, derzeit seien selbst 10 Prozent Vertriebskosten für viele Unternehmen schwierig. Die Öffnung des Marktes stelle allerdings vieles in Frage, wie zum Beispiel die Zukunft der Fahrscheinautomaten. Aus Sicht von Schucan sind diese ein Auslaufmodell, vor allem in der Schweiz und in Österreich. In Deutschland bestellen Aufgabenträger weiterhin Automaten, so dass die Technik dem Vertrieb noch eine Weile erhalten bliebe.

Vielen Dank an alle unsere Panelist:innen und die spannende Diskussion!

 

Wir freuen uns schon auf das nächste FAIRTIQ-Forum!

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